Es ist mehr als fünfunddreißig Jahre her, als Dr. Ida Rolf an der West¬küste der Vereinigten Staaten begann, ihre Arbeit einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Zu dieser Zeit war sie bereits eine weißhaarige alte Dame, die ein Leben lang mit ihrer Technik, dem sogenannten Rolfing, gearbeitet hatte. Damals, in ihrem ersten Ausbildungskurs in Big Sur, im traumhaft gelegenen Esalen Institut, scharte sich eine Gruppe von jungen Leuten um Ida Rolf, um ihre Methode zu erlernen. Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, hatte kräftig mitgeholfen, um den ersten Kurs zustande zu bringen; er sah in Ida Rolfs Arbeit die ideale Ergänzung zu seiner Gestalttherapie, weil er meinte, dass beim Rolfing etwas Ähnliches über den Körper erreicht werden könne, was in seiner Arbeit über die Seele lief.
Obwohl die Gruppe von Ida Rolfs Schülerinnen und Schülern anfangs noch klein war, wurde schon damals um Rolfing viel Aufsehens gemacht: Marilyn Monroe notierte in ihr Tagebuch, dass sie gerade Mabel Todds Buch „This Thinking Body“ gelesen habe, ein Werk, das Ida Rolf stark beeinflusste. Viele von Marilyns Kolleginnen und Kollegen aus Hollywood, Marlene Dietrich, Greta Garbo und Garry Grant etwa, kamen zu Ida Rolf. Und sie kamen alle für eine Behandlungsserie von zehn Sitzungen, in denen das Bindegewebe von Kopf bis Fuß durchgearbeitet wurde. In der Talentschmiede der Filmwelt, dem Lee Strasberg Acting Studio, gehörte es damals zu den Aufnahmebedingungen, dass die SchauspielschülerInnen erst einmal zum „Rolfen“ gingen, um ihren Körper mit den zehn Behandlungen auf die anspruchsvolle Ausbildung vorzubereiten.
Die Abfolge von zehn Behandlungen ist auch heute noch der Kern der Rolfing-Methode, wie sie in Colorado beim von Ida Rolf begründeten Rolf Institute, aber auch bei der European Rolfing Association in München unterrichtet wird.
Um dies zu verstehen, ist es nötig, einen Blick auf die Vergangenheit und die Gegenwart der Rolfing-Methode zu werfen. Als junge Frau war Ida Rolf, die als eine der ersten Frauen in den USA als Biochemikerin promovierte, viele Jahre bei einem Yogameister in die Lehre gegangen. Neben ihrem wissenschaftlichen Studium beschäftigte sie sich mit allerlei alternativen Methoden, die für sich beanspruchten, Körper und Seele des Menschen ins Lot zu bringen. Aus vielen Erfahrungen, die sie machte, beeinflussten das Yoga und das manuelle Behandlungskonzept der Osteopathie sie sicherlich am meisten. Beim Yoga, das aus der Kultur Indiens nach Amerika kam, lernten die Menschen über die Asanas - ein hochdifferenziertes, Jahrtausende altes Übungssystem - in einem langen Weg täglicher Praxis Körper und Geist in Einklang zu bringen. Bei der Osteopathie wiederum, die in der westlichen Kultur entstanden ist, wurden die Menschen von den Händen des Osteopathen behandelt, um die Selbstregulationskräfte des Organismus zu stimulieren.
Rolfing – die Brücke zwischen östlichem Yoga und westlicher Osteopathie
Nach langen Jahren der Yogapraxis entschloss sich Ida Rolf, die Yogaübungen mit der manuellen Technik zu kombinieren. Während ihre Yogaschüler Asanas und Atemübungen praktizierten, begann sie auf die Verspannungen des Bindegewebes mit ihren Händen einzuwirken, um damit den Entwicklungsprozess der Yogaschüler zu beschleunigen. Die Amerikaner nannten deshalb ihre Arbeit „Drive in Yoga“.
Ida Rolf versuchte somit, eine Brücke zwischen dem langen östlichen Weg des Yoga und dem schnell wirksamen westlichen Behandlungs¬system der Osteopathie zu schaffen. Dabei bemühte sie sich darum, die Zielvorstellungen der beiden Methoden zu vereinen. Sie war beeindruckt von den Fähigkeiten der alten amerikanischen Osteopathen, der ersten Schülergeneration von A.T. Still und deren Zielvorstellung, den Organismus von Bewegungseinschränkungen zu befreien. Zugleich schätzte sie die Kapazität des Yoga, den Menschen von unnötigen Spannungen zu befreien und sozusagen von innen her aufzurichten. Und so gelangte sie schließlich zur Verbindung der beiden Zielvorstellungen im Behandlungskonzept der zehn Rolfing-Sitzungen.
Für diese Serie von Behandlungen gibt es einen klaren Plan: Der Rolfer beobachtet seine Klienten zunächst immer im Stehen, im Sitzen und im Gehen. Er achtet darauf, wie der Körper dieses Menschen zusammengefügt ist, wo er im Lauf des Lebens zu fest oder zu weich geworden ist, wie die einzelnen Abschnitte miteinander verbunden sind. Und er richtet sein Augenmerk vor allem darauf, zu erkennen, ob der Körperbau im Einklang mit der Schwerkraft steht oder von dieser immer gegenwärtigen Größe „zusammengestaucht“ wird. Der Rolfer wird danach die wichtigsten Abschnitte des Gewebes abtasten. Er konzentriert sich dabei insbesondere auf die Faszien, die die Muskeln einhüllen und für deren Beweglichkeit eine wichtige Rolle zu erfüllen haben. Er analysiert den Körperbau dabei wie ein Bildhauer, der eine Skulptur formen will.
Der Rolfer betrachtet den Körperbau aber nicht nur aus der Perspektive der Statik. Er setzt die statische Analyse auch in Beziehung zu der Art, wie sich der Klient im Alltag bewegt; er möchte die Muster entdecken, die am Arbeitsplatz, auf dem Bürostuhl, vor dem Bildschirm, im Autositz oder auch beim Sport und in der Disco typisch sind. Und schließlich geht er an die praktische Arbeit: Das Ziel der einzelnen Rolfing-Sitzung wird nun auf den zu Behandelnden abgestimmt. Obwohl es dabei einen feststehenden Fahrplan gibt, verläuft die Anwendung selbst sehr individuell.
Von Kopf bis Fuß, von außen nach innen – Rolfing für den ganzen Menschen
Das Ziel der ersten Rolfing-Sitzung lautet beispielsweise, dem Atem mehr Raum zu schaffen und die Verbindung zwischen Brustkorb und Becken etwas zu lockern, damit sich der Organismus besser aufrichten kann, ohne sich dabei anstrengen zu müssen. Um dieses Ergebnis zu erreichen, kommt es darauf an, so genau wie möglich auf den Klienten einzugehen. Rolfer sind ausgebildet, ein breites Spektrum von Berührungsqualitäten einzusetzen. Manche werden sehr kraftvoll ausgeführt, der Rolfer fasst dabei intensiv in das Bindegewebe, wobei er kein Massageöl verwendet. Viele Behandlungsschritte sind dagegen sehr subtil und erfordern die aufmerksame Mitarbeit des Klienten: Rolfing ist zwar vordergründig eine körperliche Behandlung, aber es ist nicht weniger auch eine Wahrnehmungs- und Bewegungsschulung, die den Organismus dahin bringen will, seine Fähigkeiten zur Selbstorganisation und –heilung voll zu aktivieren. Deshalb ist die Zahl der Anwendungen auch strikt auf zehn begrenzt. Erst später, nach Monaten der Verarbeitung, sind einige Sitzungen zur Auffrischung sinnvoll.
In der zweiten Sitzung geht es zumeist darum, die Statik der Beine und Füße zu verbessern und die Balance zwischen unserem Rumpf und dem „Untergestell“ herzustellen. Die dritte Sitzung befasst sich mit der Beweglichkeit und Aufrichtung unserer beiden seitlichen Körperabschnitte. Und in den Sitzungen vier bis sieben führt der Rolfer schließlich in die tiefe Innenkonstruktion des Körperbaus, indem er tiefliegende Faszien und Membranen behandelt. Von der ersten bis zur siebten Sitzung bringt er dabei in Kontakt mit fast allen wichtigen Schichten des Bindegewebes: von der Faszie der Fußsohle, den Membranen des Unterbeins über die Schichten des Rückens bis hinauf in die feinen Einheiten des Nackens und in den hintersten Winkel des Kiefergelenks. Zum Abschluss bleiben noch drei Sitzungen, die achte, neunte und zehnte, um dem Körperbau nach der umfassenden Grundrenovierung Harmonie und Stabilität zu geben.
Dabei geht es immer um eine Grundüberlegung, die Ida Rolf schon sehr früh ausgesprochen hat: Weil wir nicht mehr auf vier Beinen, wie unsere Vorfahren, sondern auf zwei Beinen stehen und gehen, ist die Beziehung zur Schwerkraft komplizierter und auch wichtiger geworden. Es geht um möglichst ausgewogene Balance der Körperstatik und effektivere Bewegung.
Individuelle Behandlung mit Struktur und System
Mit den zehn Rolfing-Sitzungen beabsichtigt der Rolfer, die jeweils beste individuelle Lösung zu finden, indem er den Körper von unnötigen Spannungen mit ihren oft schwerwiegenden körperlichen und seelischen Folgen befreit. Die Art wie das heute geschieht, hat sich seit Ida Rolfs Tagen in mancherlei Hinsicht weiterentwickelt. Die Rolfing-Methode hat während der letzten Jahre gerade auch in Europa neue Impulse erhalten, seit der Schweizer Arzt und Rolfer, Dr. Hans Flury, Ida Rolfs Grundüberlegungen nochmals vertiefte und der französische Rolfer und Bewegungsexperte Hubert Godard an der Universität Paris die funktionelle Seite des Rolfing-Konzepts um neue Aspekte bereicherte.
Das klassische Prinzip der 10er-Sitzungen ist jedoch noch immer das kleine und das große Einmaleins der Rolfing-Methode. Das liegt einfach daran, dass mit diesen zehn Behandlungen ganz verschiedene Wünsche und Anforderungen der Klienten in idealer Weise abgedeckt werden: Manche Menschen lassen sich rolfen, um ihren Körperbau zu verbessern - sie wollen eine bessere Figur und strafferes Gewebe; andere kommen, um ihren chronischen Rückenproblemen den Boden zu entziehen, einen Ausgleich für Alltagsstress und mangelnde Bewegung zu finden; wieder andere suchen über das Rolfing eine bessere Grundlage für ihre seelische Balance. Für den Rolfer sind all diese Wege über die zehn Sitzungen begehbar, in verschiedene Höhen und Tiefen und in verschiedene Richtungen. Diese partnerschaftlich mitzubestimmen, ist im übrigen die Klientin oder der Klient im Rolfing herzlich eingeladen.